dezember 2012
Nummer 12

DER HUMANIST, EINE VOM AUSSTERBEN BEDROHTE SPEZIES

Marek Grocholski

 

Eco delle Dolomiti 12 - Editoriale

Erster Sonntag im November. Draußen ist es noch grau, aber ich spüre, dass Ludwik bereits in Bewegung ist: Er schneidet das Brot, bereitet den Tee in der Thermoskanne vor. Auf den Bergen eine Welle schwarzer Wolken. Der Föhn, ein warmer, starker Wind, der von den hohen Gipfeln der nördlichen Tatra weht, wirft Bäume nieder, schüttelt gewaltsam kleinere Gegenstände, regt die Fantasie an, entzündet die Gefühle. Gehen wir zu den Fünf Seen? Ja, sicher… ich stimme sofort zu.
Der Ausgang führt zur Talschwelle. Die Grenze zwischen zwei Welten: die Welt der engen, düsteren Roztoka unten und die der weiten, hellen Fünf Seen oben. Ein Ort, der die Eigenschaft hat, die verstecktesten Bereiche des Gehirns zu stimulieren. Der etwa zehn Meter lange Aufstieg durch vom Gletscher polierte Granitriesen gehört gleichzeitig der realen Welt als auch der zauberhaften Schneelandschaft an. Ein solcher Schnee verspricht etwas, ein Schnee verbirgt noch Träume. Eine solche Schneemenge könnte auf der Tatra entstehen und bis zu den Dolomiten hin führen oder umgekehrt.
Die Logik der Marktökonomie macht aus mir keinen erfolgreichen Menschen, aber in humanistischen Perspektiven finde ich meine kleinen Befriedigungen. Meine Eingebung wurde von meiner ersten Reise 2007 nach Italien bestätigt. Die Dolomiten und die Tatra haben etwas gemeinsam. Obwohl sie sehr verschieden sind, sind einige Plätze auf diesen Bergen des ersten als auch des zweiten Gebirges, obwohl sie sehr verschieden voneinander sind, Teile des gleichen Traumes, der gemeinsamen Realität, die sich den allgemein anerkannten Erkenntnismethoden entzieht.
In der Welt der wirtschaftlichen Berechnungen und der mathematischen Formeln wird die Intuition nicht als seriös erachtet. Polen, Anfang der neunziger Jahre. Ich genoss die wiedererlangte Freiheit und erfreute mich des Regimewechsels. In einer Stimmung der allgemeinen Begeisterung hatte die Börse von Warschau den Sitz der verhassten Pseudo-Arbeiterpartei, die das Land mehr als 40 Jahre lang regiert hatte, übernommen. Damals schämte ich mich für meine Eingebung und meinem Misstrauen der Finanzmärkte gegenüber, das ich ganz klar empfand.

DER HUMANIST, EINE VOM AUSSTERBEN BEDROHTE SPEZIES

Es ist nicht möglich, dass der erzwungene Bereicherungsprozess, der von der gesellschaftlich nützlichen Arbeit distanziert ist, gute Früchte trägt. Heute empfinde ich so etwas ähnliches wie eine bittere Genugtuung. Die wichtigste polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ veröffentlicht einen Artikel des italienischen Philosophen Giorgio Agamben mit einem Titel, der alles sagt: „Die düsteren Bankiers, die die Zukunft rauben”. Wir ergänzen ganz im Geiste des Autors des Textes: Die Priester der grausamen Religion des Geldes stehlen den Geschmack, die Farben und die Düfte der Welt. Sie würden auch gerne unsere Träume stehlen, auch den, wo sich die Tatra und die Dolomiten treffen.
Als die letzte Ausgabe von „L'Eco delle Dolomiti” nicht erschien, habe ich traurig gedacht, dass die unsichtbare Hand des Marktes oder eher die Finanzmafia mir persönlich das kleine Vergnügen geraubt hatte, einmal im Halbjahr eine Zeitschrift, eine gute Zeitschrift in die Hand zu nehmen. Zum Glück sind die Humanisten noch nicht eine vom Aussterben bedrohte Spezies – die neue „L'Eco delle Dolomiti” ist erschienen.