ETHIK DER BERGE
Annibale Salsa
In unserer Zeit, in der die traditionellen, von vergan- genen Epochen überkommenen Werte ebenso in einer Krise stecken wie die auf universelle, nicht veräußerliche Werte begründete Ethik der Natur, fragen wir uns mit steigender Verunsicherung, welche Bausteine denn in Frage kämen, um neue ethische Plattformen zu errichten. Und die Frage müssen wir in einer Sprache stellen, die auch die Jugend versteht. Die Berge können uns dabei auch im unüberschaubaren Umfeld der Postmoderne zu Hilfe kommen. Immer schon waren die Berge für die Menschen die große Metapher des Lebens und sie können es auch heute noch sein. Dank dieser ihrer „Berufung“, von der oft nur mit rhetorischen Dröhnen geredet wird, haben die Berge samt den von ihnen inspirierten großen mythologischen und religiösen Erzählungen aus alten Zeiten – den Mythen, Legenden und mündlichen Überlieferungen –, den Menschen die Grundlagen für eine starke Symbolik gegeben.
Angefangen beim pantheistisch geprägten Erleben des Waldes in der heidnischen Welt bis hin zu den großen universellen und monotheistischen „Religionen des Buches“ – Judentum, Christenheit und Islam – ist es der Ikone der heiligen und unverletzlichen Berge immer wieder gelungen, ihre Rolle als Mittler zwischen der „Irdischen Stadt“ und der „Himmlischen Stadt“ zu vermitteln. Um ein so starkes Symbol ranken und auf ihm überlagern sich verschiedenartige Elemente, die zur Grundlage für eine Ethik materieller und immaterieller Werte zu werden können. An erster Stelle steht dabei das Thema der Begrenzung, das in einer technokratischen, von Schnelllebigkeit und Grenzenlosigkeit verführten Gesellschaft in ethischem Sinne zur Herausforderung werden kann. Eines der großen moralischen Übel, das in unserer verweichlichten Gesellschaft der Massenkommunikation, zumal auch wegen der Leichtigkeit der geheimen Verführung durch die Medien, ständig neue Nahrung erhält, ist der Druck, alle Grenzen zu überschreiten, seien sie nun physischer, sportlicher, technischer, ökonomischer oder finanzieller Natur. Jedes Ding und jede Erfahrung werden nach quantitativen Maßstäben der Vernunft bemessen, ohne dem strengen Gericht des moralischen Gewissens unterworfen zu werden. Die Technologie stellt ihr wirksames Instrumentarium des Beherrschens und des Überschreitens aller Grenzen zur Verfügung und impft damit den Menschen unserer Zeit immer mehr den schon unverzichtbar gewordenen Wahn von Allmacht ein. Alles wird möglich und ist erlaubt. Jede Hürde ist überwindbar, sei es nun die der Ermüdung oder die der Erkenntnis.
An diesem Punkt angelangt, kann sich die ausgewogene Annäherung an die Berge gerade für die jungen Generationen als eine wie vom Himmel gesandte Lebensschule erweisen. Goethe hat dazu geschrieben, dass die Berge gestrenge Lehrmeister sind, die schweigsame Schüler hervorbringen. Und das Schweigen ist auch das tiefgründige Wesen der Sprache der Berge. Es ist eine Stille, deren „Lärm“ heutzutage Unbehagen, Verwirrung und Befremden auslöst. Der Freiburger Philosoph Martin Heidegger hat in seiner Hütte im Schwarzwald selbst erfahren, dass die Stille, so wie die Poesie, extreme Ausdrucksformen sind. Sie ermöglichen es in der Tat, das nahe zu bringen, was die Unterhaltungssprache nicht vermitteln kann: die Art, in der Welt authentisch zu sein. Wenn die Berge geachtet werden, sind sie die Orte, an denen die Natur ihre Wohltaten für Körper und Geist am großzügigsten verteilt. Mehr noch: Dort oben hilft die Natur, die Zwiespältigkeit von Körper und Geist zu überwinden, die in den tieferen Lagen das Leben nahezu verrückt und entfremdet macht. Die Berge haben Heilungskraft in sich, die sich von dem Augenblick an bemerkbar macht, in dem sie uns vom unehrlichen Alltag trennen und uns helfen, uns selbst dadurch zu erkennen, dass sie uns unserem intimsten Ich gegenüberstellen, das weder Lügen noch Verstellungen kennt und frei von den konventionellen Zwängen einer falschen Bewusstseinsbildung ist. Dann merken wir, wie brüchig viele dürftige Verteidigungsbarrieren unserer Geisteshaltung sind. Gewinner sind die Solidarität und der soziale Zusammenhalt, die zu Gegenmitteln gegen den pathologischen Egoismus und Individualismus werden. Im Kampf gegen die Schwierigkeiten des Lebens nährt die Bergwelt jenen Geist der Seilschaft, den die eigennützige Gesellschaft bewusst unterdrücken will.
Die anfällige Welt der Natur, wie etwa die Bergwelt, fördert ein tiefes Verständnis der menschlichen Natur mit ihren strukturellen und umweltbedingten Schwächen. Dazu ist aber offen und ohne Wenn und Aber auch zu sagen, dass die Berge oft für fragwürdige Rhetorik missbraucht werden, als ob sie die Erneuerer der ursprünglichen Reinheit wären, die vor jeder ansteckenden Veränderung schützen könnten. Der Mythos der reinigenden und geradezu katarrhaktischen Kraft der Höhen hat so zur Verherrlichung der Kriege und zu vielen anderen epischen Kundgebungen der Selbstbeweihräucherung Anlass gegeben. Für viele Jahrhunderte waren in Europa die Alpen und die Apenninen Schlachtfelder von Heeren, die sich im Namen der Verteidigung von strategischen natürlichen Grenzen gegenüber standen, welche als „heilig“ und geradezu als vorbestimmtes Gelände für hygienische Blutbäder galten, wie uns das unheilvolle Echo von D’Annunzios Gesängen noch nachklingt. Die Berge, gleichgültig ob es nun die Alpen oder der Himalaja, die Pyrenäen oder der Karakorum, die Anden oder der Balkan sind, sind in Wirklichkeit Räume des Öffnens, Durchgangsgebiete, für Sprachen und Gebräuche durchlässige Scharniere. Der nahe Termin der Jahrhundertfeiern zum Ausbruch des Großen Krieges in der Trienter Gegend sollte den inzwischen gewonnenen zeitlichen Abstand doch nutzen können, uns endgültig von der Rhetorik der sich gegenüber stehenden Nationalismen, der Unversöhnlichkeiten und der vaterländischen Chauvinismen zu befreien.
Die konzeptionelle Gleichstellung von Staat und Nation hat ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Konfusion und Missverständnisse in den Alpenländern gezeugt und durch nichts zu rechtfertigendes Leid zurück gelassen. Im jetzigen Europa ohne Grenzen und mit den unverantwortlichen Euroskeptikern vor Augen sollte man die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, jetzt gelassen und friedfertig den offenkundigen Unterschied zwischen Angreifern und Angegriffenen, zwischen Besatzern und Besetzten klar zu machen. Auch hier kann die Idee der Begrenzung eine bildende, erzieherische Funktion der Ermahnung haben, die der Jugend hilft, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, so wie die Bergler fest auf ihre Füße gestellt und nicht von täuschenden Floskeln ideologischer Gebilde verführt. Der „Mythos des Ikarus“, der Wunsch also, die physische, mentale und geistige Dimension des Horizontalen zu durchbrechen, hat demnach mit einer Ethik der Verantwortung gegen die Natur und gegen uns selbst verbunden zu sein.