dezember 2012
Nummer 12

DER GROSSE MEISTER
Erinnerung an Luigi Meneghello anlässlich seines fünften Todestages

Sonia Sbolzani

 

Eco delle Dolomiti 12 - Erinnerung an Luigi Meneghello anlässlich seines fünften Todestages

Vor fünf Jahren ist Luigi Meneghello in Thiene gestorben. Er war einer der bedeutendsten italienischen Schriftsteller der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich habe seine Romane – von „Libera Nos a Malo“ (dt. Erlöse und von dem Bösen/Befreie uns von Malo) zu „I piccoli maestri“ (Die kleinen Meister), von „Pomo Pero“ (dt. Apfel Birne) zu „Il dispatrio“ (dt. Die Auswanderung) – ebenso geliebt wie die intensive essayistische und journalistische Produktion, die die verschiedensten Themen berührte, auch wenn ein besonderes Augenmerk den Ereignissen des letzten Krieges galt, an dem er selbst als Partisanenkämpfer in den Bergen Venetiens teilgenommen hat. Und seine Berge sind es auch, denen er besonders leidenschaftliche Zeilen widmet, voller Respekt und Poesie.
Vor allem die Dolomiten, nicht nur jene um Belluno, sondern auch die im Trentino, haben ihm immer viel bedeutet, und daher möchte ich hier wiedergeben, was er in den handgeschriebenen „Carte” (dt. Karten), die lange unveröffentlicht geblieben sind und nur in Teilen vor und nach seinem Tod publiziert wurden, über das Val Rendena und die Umgebung schreibt: Es handelt sich um einen Text, der deutlich zeigt, welche Aufmerksamkeit und welches beinahe „kindliche” Einfühlungsvermögen er den kleinen Dingen, den Details des ländlichen, bäuerlichen Lebens entgegengebracht hat, von dem er stets fasziniert war und das er so liebevoll in „Libera Nos a Malo” schildert, das als sein Meisterwerk gilt.
Er schreibt: „Früher sagten die Mütter im Val Rendena zu ihren Kindern, wenn sie mit Wasser spielten und kleine Bäche über den Hof oder in der Küche rinnen ließen, nicht (im Dialekt natürlich): „Das ist ja ein Sarca geworden!“, sondern „Das ist ja eine Sarca geworden!“. Heute gilt der Fluss offiziell als männlich, dabei ist oder war die andere die authentische Form. Das hat mir in den vierziger Jahren ein befreundeter junger Bergsteiger aus Pinzolo bestätigt. Warum ich das erzähle? Weil eine zufällige Ewähnung des Flussnamens mir wie einen Film den lebendigen Kern einer weit zurückliegenden Erfahrung wieder vor Augen geführt hat.

Eco delle Dolomiti 12 - Erinnerung an Luigi Meneghello anlässlich seines fünften Todestages

Die Sarca ... In ihrem ganzen Glanz haben ich es kennen gelernt und sie dann untergehen lassen und vergraben, das Val Rendena und Pinzolo und San Virgilio, das ganze verzauberte Königreich des Val Genova und die hohen Flanken der Berge, des Carè Alto, des Adamello, der Brentagruppe. In dieser Umgebung fühlte ich mich für kurze Zeit sehr lebendig und (ohne es zu wissen) ungewöhnlich glücklich, in der letzten, abstrakten Juliwoche des Jahres 1942, während zuhause, in meinem Heimatdorf, meine Großmutter starb, die überaus gläubig und ebenso würdig war, in den Himmel zu kommen und doch am Ende panisch vor Angst, das Leben loslassen zu müssen, um zu gehen. Bei der Rückkehr von unserer „ Adamello-Expedition” (eine lange, unbekümmerte Rückreise, drei Freunde, das Fahrrad) sahen wir aus der Ferne, dass die schmucklose Haustür mit ihrem Grau und verblichenen Blau, verschlossen war und außen die schwarz umrandete Traueranzeige hing, die uns, noch bevor wir sie gelesen hatten, sagte, eure Großmutter Esterina ist gestorben. Was ist verspürte, war kein deutlicher Schmerz, sondern eine Art Verwirrung, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen, der einem, bevor der Schmerz einsetzt, das sonderbare Gefühl gibt, etwas Irreales zu erleben. Doch dann übermannte mich (ich war eben zwanzig Jahre alt) eine kleine Sarca existenzieller Bestürzung: Ich betätigte den Türklopfer aus Messing, man öffnete mir die Tür und ich trat ein.”
In dieser Passage steckt die ganze Antirhetorik und der klare sentimentale Realismus Meneghellos, eines äußerst gebildeten Mannes, der es aber liebte, den herzlichen Dialekt seiner Kindheit im Vicentiner Umland zu verwenden, aus dem er auch mit vollen Händen schöpfte, um seine Romane (stets reich an autobiografischen Anregungen) „auszustaffieren“. Seinen „Auftrag“ als Schriftsteller beschreibt er so: „Ich hatte mir vorgeschrieben, alle getreu zu berichten, jedes einzelne Datum, jede Tageszeit, jeden Orte, jede Entfernung, jedes Wort, jede Gesten, jeden einzelnen Schuss.“ So dass nichts und niemand, der jemals sein Leben geteilt hat, aus dem Prisma der Erinnerung verschwinden kann... die Erinnerung ist der Weg zur Identität oder auch zu jenem Sinn, der das Leben lebenswert macht. Ein Sinn, der sich für Meneghello aus dem aktiven Tun ergibt und nicht als letztgültige Wahrheit verstanden werden soll. So arbeitet in ihm, in der Stille, die Erinnerung, bevor sie zur Erzählerstimme wird, die Fäden der Erinnerung wieder zusammen knüpft und ein Erlebnis scheinbar unbedeutender Gegebenheiten und Personen vor dem Vergessen rettet, die sich im Nachhinein als bedeutende Mosaiksteine der großen Geschichte erweisen.

Eco delle Dolomiti 12 - Erinnerung an Luigi Meneghello anlässlich seines fünften Todestages

Luigi Meneghello wurde 1922 in Malo geboren und widmete sich seit seiner Jugend dem Studium der Literatur (er legte das Abitur mit nur 16 Jahren ab); an der Universität kam das Studium der Philosophie hinzu. Zur Zeit des Faschismus trat er dem Partito d‘Azione bei und nahm am Partisanenkampf teil. In der Nachkriegszeit übersiedelte er als Dozent nach England, wo er in Reading den Lehrstuhl für italienische Literatur begründete. Jahrzehntelang pendelte er zwischen England und dem Veneto und kehrte nach dem Tod der über alles geliebten Ehefrau (einer Jüdin ungarischer Muttersprache aus dem ehemaligen Jugoslawien, die als Jugendliche die Deportation nach Auschwitz erlebt hatte) im Jahr 2000 endgültig in die Heimat zurück und ließ sich in Thiene nieder. Die Leidenschaft, Kinder zu unterrichten, begleitete ihn sein Leben lang, und so schildert er seine Vorstellungen zur Erziehung in „Fiori italiani“ (dt. Italienische Blüten“) folgendermaßen: „Unter den Zuhörern erhob sich ein rothaariger Junge und begann auf melancholische und höfliche Art die Vortragenden zu tadeln, sie hätten den wichtigsten Aspekt der Erziehung übersehen, den des Aufblühens. Wir sind wie eine Blume im Topf, sagte er. Ihr müsst uns hegen und pflegen, uns zum Blühen bringen.“ Nach den Werken Meneghellis sind auch bedeutende Theaterarbeiten (Gabriele Vacis, Marco Paolini) und Kinoproduktionen entstanden (so die wunderschöne Verfilmung von „Die kleinen Meister“ des Regisseurs Daniele Lucchetti), die den hohen kommunikativen Wert seiner Erzählungen hervorheben. Große Meister wie er sterben nie.