SUBTROPISCHE OLYMPISCHE SPIELE
Nicolas Boldych
Die Ausweitung des Kreises
Seit Beginn der Olympischen Winterspiele in den 20er-Jahren waren die natürlichen Standorte der Weißen Olympiade immer die der westlichen Vision: Die vom englischen Tourismus des 19. Jahrhunderts entdeckten Alpen (die ersten Winterspiele gab es in Chamonix, dem vom englischen Adel ins Leben gerufenen Wintersportort), Skandinavien (Schweden und Norwegen) und Nordamerika. Weil der Winter dieses fiktiven Kollektivs „im Norden” liegt, mussten die Olympischen Spiele auf den nördlichen Breitengraden von West-Europa und des amerikanischen Kontinents inszeniert werden. Japan, der paradoxe Westen an den Grenzen zu Asien, das die Spiele schon zweimal organisiert hat, ist die Ausnahme von dieser Regel.
Mir scheint aber, als wäre etwas dabei sich zu ändern: 2014 verlässt die Olympiade zum ersten Mal ihr gewohntes Areal – das Dreieck Alpen-Skandinavien-Amerika – und übersiedelt in euro-asiatisches Gebiet.
Die kommenden koreanischen Spiele in Pyeonchang scheinen eine „zentrifugale” Tendenz zu bestätigen, die, sollte sie anhalten, dazu führen wird, dass sich die Veranstaltung freier als bisher durch die ganze Welt bewegen wird, von Nord nach Süd, von Ost nach West. Es gibt in der Tat viele Länder, deren Klima und Landschaft es erlauben würden, Gastgeber der Olympischen Winterspiele zu sein.
Das Verdienst für diese Ausweitung des Kreises, die es uns erlauben wird, unsere Geographie zu überdenken, gehört auf alle Fälle Russland.
Der Kaukasus ist das Bindeglied der Kontinente
Sotschi befindet sich an den westlichen Ausläufern des Kaukasus, am Ufer des Schwarzen Meers – dem antiken griechischen Hellespont – an der Grenze zwischen Europa und Asien, im „Krai” (russisch „Gebiet”) von Krasnodar. Im Norden, etwa 600 km entfernt, liegt die Kalmykia, ein Land mit mongolischer Sprache und buddhistischer Religion, und im Süden läuft der Kaukasus gegen das Kaspische Meer und den Iran aus. Die Region Krasnodar – die den Krai von Sotschi mit seinen 400.000 Einwohnern umfasst – ist von alters her ein Treffpunkt der Steppenvölker (Skyten, Cimmerians und Alanen) und denen aus dem Mittelmeerraum (Griechen, Rumänen, Venezianer und Genueser), von Slawen und Kaukasiern, Türken und Persern. Außer der russischen Bevölkerung leben in Sotschi auch Adygeaner, Georgier, Armenier und Griechen, währen sich nördlich davon im 9. Jahrhundert ein estnischer Stamm (Eesti-Sadok) niedergelassen hat. Der Kaukasus ist also an sich schon ein Symbol des Zusammentreffens der Kontinente und widerspiegelt damit den Sinngehalt der fünf Ringe der olympischen Flagge.
Ein Nizza am Schwarzen Meer
Russland hat nicht nur die hohen Gipfel des Kaukasus oder des Altaigebirges an der Grenze zur Welt von China, sondern auch einen Süden, dessen Endpunkt das weitläufige Dreieck ist, das von den Höhen des Großen Kaukasus, dem Schwarzen Meer, dem Kaspischen Meer im Westen und Osten und von Don und Wolga im Norden begrenzt wird.
Sotschi liegt im Süden dieses Südens, der sich zwischen den beginnenden Bergen des Großen Kaukasus und dem Schwarzen Meer über 140 km hinzieht. Es sind drei lange, parallele und sich gerade hinziehende Streifen: das Meer, die Stadt und die Berge. Wegen ihrer Lage als mittlerer Streifen ist die Park-Stadt Sotschi – in Klima, Flora und Fauna – das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen dem Meer und den Bergen, mitten zwischen der Milde und Feuchtigkeit des Meeres und den zwei Winden, die sie durchwehen: der eine warm und trocken, der Föhn, und der andere, die Bora, eiskalt. Weiter im Norden etwa fünfzig Kilometer von Sotschi entfernt, erheben sich aus den Bergwiesen Gipfel, die schon die 2000 Meter überragen, während mehr südlich ein feuchtes, subtropisches Klima vorherrscht, wie es für die östlichen Gebiete Asiens, Europas und Amerikas typisch ist. Auf demselben Breitengrad wie Nizza gelegen, trägt es zum Verständnis von Sotschi bei, wenn man die Stadt klischeehaft das russische Nizza nennt.
In vielem erinnert die Küste des Schwarzen Meeres in der Tat an die Ligurische Riviera: subtropische Vegetation, Palmen und Agaven, Kakteen, Hibiskus und Oleander, Patrizierhäuser, die häufig aus dem 19. Jahrhundert stammen und lange Spazierwege.
In Sotschi gibt es einen großen Park, der wirklich „Promenade“ heißt. Die Ligurische Riviera und die des Kaukasus sind Gebiete, in denen die Berge dem Meer begegnen, wobei nur schmale Streifen vor den zerklüfteten Höhen frei bleiben, auf denen sich das vom Meer vorgegebene Wohngebiet der Stadt hinzieht. Geradezu magnetisch vom Meer angezogen, reihen sich die Bezirke in einem ununterbrochenen horizontalen Band über weite Entfernungen hin.
Einladung der Natur
Anders als Nizza, Monaco und Genua ist Sotschi eine weitläufig gewachsene Stadt mit vielen auseinander liegenden Stadtkernen, die es der Vegetation erlaubt, sich in den Parks der Kurhäuser, etwa des Sotschi-Mazesta, und in den Anlagen wie dem Riviera-Park auszubreiten. Besonders schön sind auch die nach französischer und italienischer Art angelegten Gärten und das chinesische Dendrarium, wo Bambus neben vielerlei Eichen, mehr als 80 Arten, Pinien, Pflaumenbäumen und Kaukasus-Zypressen wächst und Schmetterlinge aus Chile absolut heimisch geworden sind. Seit jeher hat sich die Natur selbst in diese Stadt eingeladen. Geholfen haben ihr dabei aber einfühlsame Wissenschaftler, die seit mehr als hundert Jahren die besonderen Eigenarten dieses Ökosystems kennen und fördern. Einer davon ist der Biologe Christophore Shaposhnikov, der nördlich von Sotschi das weitläufige Naturschutzgebiet des Kaukasus ins Leben gerufen hat, das heute zum Unesco-Kulturerbe zählt und 2008 ihm zu Ehren Shaposhnikov-Reservat benannt wurde. Es verwundert deshalb nicht, dass auch die Natur zu diesen Spielen eingeladen ist, was sich in verschiedenartigen Programmen des Umweltschutzes niederschlägt, zu denen auch die Schaffung eines Ausbildungszentrums für Ökologie im Dendrarium von Sotschi zählt. Die Anstrengungen auf diesem Gebiet dehnen sich auch auf das Shaposhnikov-Reservat und die Region Krasnaya Polynana aus, dem von Sotschi etwa 60 Kilometer entfernten Skigebiet wo die Ski-Wettbewerbe stattfinden werden. Der Einsatz dafür verlangt die Beachtung der auf Nachhaltigkeit ausgelegten Normen bei den Projekten umweltfreundlicher Bauten, die Verwendung alternativer Energiequellen und natürlich die Einschränkung des Co2-Ausstoßes. Vorgesehen sind dabei auch Prämien für die Unternehmen, die sich den entsprechenden Standards unterwerfen und die vorgegebenen Auflagen einhalten.
Das Shaposhnikov-Reservat ist ein Ökosystem, dessen Reichtum an Tieren mit der Zeit nahezu sinnbildlich geworden ist: Hirsche, Braunbären, Luchse, Bergziegen und Wisente. Im westlichen Teil des Reservates finden sich Stechpalmen, kaukasische Buchsbäume, Eiben, vielerlei Arten von Lianen, Rhododendren und Orchideen.
Die mittleren und hohen Höhenlagen sind von Wäldern mit Kastanienbäumen, Buchen, Birken, georgischen Eichen und Ahorn aus Kappadokien bedeckt. Weiter im Norden stehen Koniferen-wälder (worin auch die Nordmann-Tanne), in denen es eine Vielfalt von Farnen gibt. In den obersten Lagen hat sich eine beeindruckende Landschaft (Krummholz) entwickelt, in der die Stämme und Äste der Bäume geradezu vom Föhn geschaffen zu sein scheinen. Es ist ein Teil des Ökosystems, für das die Spiele die Gelegenheit geben, es wenigstens mit einem Blick zu streifen und damit, dank des ebenso vertrauten wie doch exotischen Schauspiels der Natur, unseren europäischen Horizont auszuweiten.