VERSUNKENE GESCHICHTEN VOM HEILIGEN SEE
Giovanni Feo
Santa Smemorata, die Heilige des Vergessens, könnte man zur Schutzpatronin des Lago di Bolsena ernennen, Gründe dafür gibt es schließlich viele, nicht zuletzt der Verlust der historischen Erinnerungen aus der großartigen Vergangenheit des zweitgrößten Vulkansees der Welt. Der See, seine Tiefen und seine weitläufigen Ufer waren für Jahrtausende ein Sammelbecken reich an Mineralien, Pflanzen, Fische, Thermalquellen, Fruchtbarkeit und Leben. Hier siedelte sich eine der ältesten Kulturen des prähistorischen Italiens an (die Rinaldone-Kultur) und legte den den Grundstein für die spätere Bevölkerung durch die Etrusker und schließlich durch die Römer.
Die Vergangenheit des Lago di Bolsena, der als kultureller Ausgangspunkt eng mit der Entstehung und dem Entwicklungsprozess des antiken Italien verbunden ist, birgt eine Vielzahl bedeutender und versunkener Geschichten. Dazu muss allerdings eines gesagt werden: Dass der See die faszinierenden Zeugnisse seiner Vergangenheit bis heute erhalten hat, mag auch dem wohlwollenden Einfluss einer ganzen Reihe göttlicher Figuren zu verdanken sein, christliche und vorchristliche, die von der Vorgeschichte bis ins christliche Mittelalter als Schutzpatrone des Sees gewirkt haben. Diese verschiedenen Götterfiguren, die alle weiblichen Geschlechts sind, hielten für lange Zeitalter ihre schützende Hand über den Binnensee und sind der eigentliche Grund dafür, dass dieser seit der vorgeschichtlichen Zeit als heilig gilt. Aus diesen Urzeiten stammt der Kult einer großen Göttin der Fruchtbarkeit für Land und Wasser. Nach diesem uralten Vorbild entstanden in historischer Zeit die etruskischen Gottheiten Turan, Uni und Voltumna, die römisch-etruskische Fortuna und schließlich die Heilige Christina, die christliche Patronin der „Gewässer”, die gotische Königin Amalasuntha und die Heiligen Martha, Margareta von Antiochia und Maria Magdalena.
Es gibt keinen Zweifel: An diesem See war eine archetypische Ikone des Weiblichen zuhause.
Die ältesten und besonders einzigartigen Denkmäler, die die Bedeutung des Sees als heilige Stätte bezeugen, sind um das 10. Jahrhundert vor Christus bei einem Anstieg des Wasserspiegels versunken. Es handelt sich um vier riesige Erdhäufen (in der Gegend „Beete” genannt), deren ursprünglicher Verwendungszweck noch ungeklärt ist, einer an jedem der vier Ufer des Sees und oberhalb einer Thermalquelle gelegen. Geheimnisvolle Bauwerke, die vermutlich errichtet wurden, um in einem Gründungsritus den gesamten Umfang des Sees zu „markieren”.
Religionshistoriker nennen als ältesten Ausdruck der Religiosität die Pilgerschaft; was durchaus einleuchtend ist, da die ersten Gemeinschaften als Nomaden lebten. Nachdem sie die strategisch herausragenden Orte ihrer Pilgerschaften herausgefunden hatten, erklärten sie diese zu den ersten heiligen Stätten; meist waren das Seen und Berge. Die Seen assoziierten sie mit der Erde und der Unterwelt, die Berge mit der höheren und der himmlischen Sphäre.
So ist es sicherlich kein Zufall, dass die jährliche Pilgerreise der Etrusker zum heiligen See in der nachfolgenden Epoche zum bedeutendsten christlichen Pilgerereignis wurde, entlang der Strecke, die heute als Via Francigena (auch Frankenstraße genannt) bekannt ist: sie führt nach Rom, über die Wege der Kreuzzügler und Santiago de Compostela. Die Straße mündet in den Krater bei San Lorenzo Nuovo und verlässt ihn auf der Höhe von Montefiascone.
Der westliche Hang des Sees birgt weitere bedeutende und vergessene Zeugnisse aus einer lang vergangenen Zeit, die nun wieder aufzutauchen beginnen.
Westlich von Bolsena, in der Region Toscana, wurden archäologische Ausgrabungen von herausragender Bedeutung gemacht und es ist anzunehmen, dass in den übrigen Gebieten rund um den See weitere bedeutende Entdeckungen anstehen, die von einer sagenhaften Vergangenheit zeugen und uns überraschende und zugleich aktuelle Erkenntnisse vermitteln können. Das Gebiet westlich des Kraters von Bolsena ist durchzogen von einer strahlenförmig angeordneten Formation tiefer Vulkanschluchten, die beim Flusstal des Fiora zusammentreffen. Das mittlere Fioratal war immer in engem Kontakt zum angrenzenden See gestanden, doch da das Gelände voller Abgründe, Schluchten und schroffe Felsüberhänge aus Tuffstein rau und unzugänglich ist, haben sich dort einzigartige und seltene Zeugnisse aus der vorgeschichtlichen und der etruskischen Epoche erhalten.
Aus den kürzlich gemachten Funden im Gebiet um Bolsena (Monte Landro) und im angrenzenden Fioratal (Poggio Rota) ergibt sich eine neue Sicht der antiken Welt, der etruskischen wie der präetruskischen, die auf eine Art „heilige Wissenschaft” schließen lässt, oder besser eine Wissenschaft, die zugleich die Bedeutung Landschaft und die Gegend als heilige Orte hervorhebt.
Wir wissen, dass die Etrusker über eine beträchtliche Anzahl heiliger Bücher verfügten, die in hieratischer Schrift die überlieferten Vorschriften zum Umgang mit den Gottheiten enthielten, die über die Schöpfung herrschten, nämlich indem man die vielfältigen göttlichen „Zeichen”, die sich aus den Himmelsphänomenen, den Verhaltensweisen der Tiere und in allen anderen Naturerscheinungen ergeben, interpretierte. Diese Lehre, etrusca disciplina genannt, wurde über Jahrhunderte hinweg mündlich überliefert und erst am Ende aufgeschrieben, doch die Texte sind leider verloren gegangen. Geblieben sind die zahlreichen Titel, die uns immerhin eine Vorstellung vom Kenntnisreichtum und den Interessen der Etrusker geben.
Was hat man also kürzlich in Bolsena und im Fioratal entdeckt?
Es handelt sich um jene Art von Entdeckungen, von welchen man bereits vorher weiß, dass sie zuerst eisern ignoriert, negiert und lächerlich gemacht werden, weil sie nicht in das moderne „rationalistische” Weltbild passen; dann werden sie herablassend als etwas Lästiges ertragen und am Ende heißt es, man habe das doch alles bereits gewusst... Bei einer „Entdeckung” gibt es solche, die sie zuerst machen, solche, die sie später sehen und solche, die sie nie machen. Im Fioratal wurde ein umfangreiches Gitternetz entdeckt, dessen gerade Linien die bedeutendsten antiken Stätten der Region, etruskische und präetruskische Orte, untereinander verbinden. In mehr als einem Fall werden die Linen durch erhöhte Punkte markiert, wo man etruskische Tempel und „Observatorien” des Himmels und der Erde aus der Kupfersteinzeit (3. Jahrtausend vor Christus) entdeckt hat. Die Linien aus dem Fioratal berühren die wichtigsten etruskischen Tempel im Innern des Kraters von Bolsena. Das „Gitter” ist sehr weitläufig und über mehrere Jahrtausende entstanden. Es ist ein greifbares und messbares Zeichen eines ausgefeilten Gründungs- und Besiedelungsplans des Gebietes, das von Kulturen und Völkern erarbeitet wurde, die wesentlich weiter entwickelt sind, als man bisher vermutete.
Ein ähnliches System von Linien in Form eines Gitternetzes wurde bereits in Großbritannien entdeckt und erforscht, weitere Ähnlichkeiten lassen sich auch zu den Nazca-Linien in der peruanischen Wüste erkennen. Auf ein analoges Prinzip greift heute noch die chinesische Tradition des Feng Shui zurück: Entlang der Linien, die „Wege des Drachen” genannt werden, fließt die Erdenergie, deren Einfluss grundlegend für das Leben des Menschen und das natürliche Umfeld ist. Die antiken Völker lebten jahrtausendelang in einem ständigen symbiotischen Dialog mit Mutter Natur und kannten aus unmittelbarer Erfahrung, ganz ohne technologische Hilfsmittel, die Macht, Götter und Geheimnisse jenes Wesens, das sie als große Göttin der Schöpfung, die Herrscherin über Leben, Tod und Wiedergeburt betrachteten.
Die Linien im Gebiet von Bolsena, die „Ley-Linien” in England, die „ceques” der Inka, die fernöstlichen „Wege des Drachen” wurden nicht aus militärischen Gründen angelegt oder zur Markierung gewöhnlicher Verkehrswege, und das ist einer der Gründe, weshalb die modernen „Wissenschaftler” und „Experten” häufig behaupten, es gäbe sie nicht, weil sie sie nämlich nicht sehen. Sie sehen sie nicht, weil sie eben ihre Funktion nicht verstehen, die zweifellos noch nicht ganz geklärt ist, doch von unverkennbar sakrale Bedeutung ist, die mit dem Kult und darüber hinaus der Beobachtung des Himmels und der Himmelskörper zu tun hat.
Daraus ergibt sich ein neuer Blick auf ein Volk, das hier vor 5000 Jahren ein Projekt begonnen hat, das Weisheit, Spiritualität und Kunst verbindet und als Schauplatz die Erde und bestimmte Orte wählt, die untereinander durch Linien verbunden sind, durch die die Bewegung der Sonne und anderen Gestirnen auf der Erde abgebildet wird.
Die Vision einer Gesellschaft, die über viele Jahrtausende im Einklang mit Mutter Natur und ihrer kreativen Macht gelebt hat, erscheint heute wie eine Art Herausforderung und Mahnung an die zeitgenössische Gesellschaft, die die Umwelt zerstört und alle Macht, die nicht vom Menschen kommt, für nichtig erklärt.
Ist es denn „primitiv”, zu meinen, dass in Mutter Natur eine kreative Macht steckt, die einer mächtigen Göttin gleicht, und sie aus diesem Grund so zu verehren, wie es eine heilige Wissenschaft vorsieht?
Giovanni FEO, Schriftsteller und Forscher, lebt seit etwa dreißig Jahren in der Maremma, wo er umfangreiche Feldforschung betrieben hat, um profunde Kenntnisse über die etruskischen und präetruskischen Gebiete zu erwerben. Im Jahr 2005 hat er das Observatorium von Poggio Rota (GR), das in seiner Art einzigartig ist in Italien, entdeckt und der Behörde gemeldet.
Er ist Gründer des Kulturvereins Tages (Pitigliano) und der Vereinigung Tawantin, gemeinsam mit dem Anthropologen Juan Nunez del Prado.