RESONANZEN
EIN PINIENHAIN,
TAUSEND GEDANKEN
von Sonia Sbolzani
Das Unwetter hat sich eben gerade aus dem Pinienhain
von Pinzolo verzogen und in ihm die feuchte Wärme des Herbstes
hinterlassen. Da komme ich nun beim Anbrechen des Abends, verleitet
von einer neu geborenen Sonne, die mit dem Untergehen zu zögern
scheint und quasi umzukehren scheint , dort hinter den Berg, hinter
dem sie gerade versinkt.
Ich setze mich auf eine Bank am Wildbach in einer Ruhe, die das
Rauschen des Wassers vereinnahmt und zu reiner Stille abschwächt.
Auge und Seele mit den Bildern aufzuladen, die diese Umgebung bietet,
ist für mich eine Art "spirituelle Übung", eine
Übung zur Katharsis, zur Suche nach dem Wesentlichen, eine
Art von voluptas inveniendi, von Streben, das Absolute zu entdecken,
diesen göttlichen Funken, der in uns sein muss, weil es ihn
auch außerhalb von uns gibt, und der nirgendwo sonst so vernehmbar
ist, wie im Gebirge.
Ein argentinischer Schriftsteller, Héctor Tizón, hat
einmal geschrieben, dass es gut ist, das Herz mit Bildern zu füllen,
"um das Leben nicht mehr in Jahren, sondern in Bergen, in Gesten,
in unendlich vielen Gesichtern zu zählen...". Wie wunderbar
wäre es doch, das Leben wirklich in Bergen zählen zu können!
Ich bin 100 Berge alt, ich 120 Berge und ich 200 Berge alt... weil
ich diese Berge 100, 120, 200 Mal betrachtet, über sie nachgedacht,
sie geliebt, bestiegen habe und meine Dinge so getan habe, wie ich
sie in einer aus dem Kosmos entspringenden Symbiose gemacht habe...
In jedem Schöpfungsmythos der Welt treten Berge auf, insbesondere
ein heiliger Berg, der Himmel und Erde, Mensch und Gott verbindet
wie ein sehr hoher Baum, der seine Wurzeln und Zweige in die Unendlichkeit
der beiden Extreme ausstreckt, um sie unauflöslich zu verschmelzen
und das Leben hervorzubringen. Ich erkenne, dass die Berge, gerade
wie die Bäume, die unbegrenzte Bemühung der Erde sind,
mit dem Himmel zu reden und auf ihn zu hören.
Der Olymp für die Griechen, der Tabor für die Juden, der
Weiße Berg für die Kelten, der Tenten für die Araukarier,
der K'uen-luen für die Chinesen... Jeder hat seinen Berg!
Inzwischen vergeht die Zeit auf der Bank und ich werde mir bewusst,
dass jetzt mein Blick auf den Adamello geschweift ist, vielleicht
auf der Suche nach etwas...
Wenn ich im Gebirge bin, kann ich nicht anders, als jeden Tag daran
zu denken, wie viele dort oben im Krieg, im ersten Weltkrieg, gestorben
sind. Und es gibt Berge, die mir diese Erinnerung mehr heraufbeschwören,
als andere, vor allem ist das der Adamello.
Der Mensch als Soldat war nie zerbrechlicher und kurzlebiger als
jetzt, wie ein Herbstblatt, und daran ist nicht das Gebirge schuld,
das selbst in seiner Heiligkeit verletzt wurde, von Kanonen und
Gräben brutal zerfurcht. Aber das Gebirge - so mag ich es mir
vorstellen - bot ihm auch seine ewige mütterliche Umarmung
an, indem es sich seiner Überreste annahm.
Und so erscheinen mir nun diese Berge noch heiliger als andere,
und das Schweigen, der Respekt, den wir ihnen schulden, ist heilig.
Der Abend ist endgültig auf den Pinienwald herabgestiegen,
kühl und mondbeschienen. Der Genius loci fordert leise seine
Einsamkeit ein. Die kristallgleichen Schatten der Bäume heben
mich hoch, wie leichtfüßige Freundinnen, und begleiten
meinen Abschied in einem stillen Zauber.
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