Kurz
 
Das Gebirge und die Emotionen
Alessandro Franceschini
 

Eine Einladung zur Bewahrung der Berge, um ihren Nomos zu verstehen, ihr Gesicht zu betrachten, um es kennen zu lernen und sich mit ihm in Einklang zu bringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was ist dieses Unsagbare? Oder: Was ist dieses Gefühl der Bestürzung, des Verlorenseins, das uns jedes Mal befällt, wenn unser Blick auf die Form, auf die Schluchten, Kanten und auf die Farben eines Berges fällt? Dieses durchdringende Gefühl, das, um es mit Merlau Ponty zu sagen, "diese stumme Berührung mit den Dingen, wenn sie noch nicht ausgesprochen sind", oder mit Paul Guichonnet, "diese Gespenster ohne organischen Zusammenhang mit der Umgebung ringsum" kennzeichnet? Schriftsteller, Philosophen und Denker haben versucht, es zu beschreiben, darüber zu reden und damit einer wahren und eigenen Ästhetik der Alpen Leben zu verleihen, die auch heute noch eine Grenze bei der Betrachtung der Landschaft darstellt. Und gleichzeitig die Anregung einer neuen und doch immer alten Beziehungsdimension zwischen Mensch und Natur.
Bis zur Renaissance war, wenn man von einigen Versen des göttlichen Homer absieht, der die Gebirge als "die monströsen Bürden der Erde" bezeichnet hatte, und von Petrarca, der von ihnen in seiner berühmten Beschreibung eines Ausflugs auf den Monte Ventoso sehr viel spricht, das Thema des Gebirges als etwas Unerkennbares, eben als die "hohen Orte" aufgefasst worden. Örtlichkeiten, von denen sich der Mensch fern halten musste. Vielleicht war es der Wohnsitz der Götter, oder vielleicht der Aufenthaltsort des Teufels und der Hexen, aber jedenfalls eine Umgebung, von der sich der Mensch nur sowohl physisch, als auch geistig fernhalten konnte.
Im Morgengrauen der Renaissance zeigt Leonardo da Vinci ein ausgesprochenes theoretisches Interesse für die Gebirge: er macht sich auf, sie persönlich zu erkunden und wird damit in einem gewissen Sinn zum Alpinisten, der dann die kontemplative Dimension in Zeichnungen auf dem Horizont vieler Werke rekonstruiert.
Doch es war Josua Simler, der im Jahr 1576 mit seinen herrlichen Beschreibungen der Alpen neues Licht auf die Betrachtung der Giganten der Erde werfen sollte. Simler schrieb: "die Erhabenheit der Berge verdient unsere devoteste Betrachtung", denn auf ihnen, wenn man sie in ihren Einzelheiten beobachte, "geht einem das Auge vor Wundern über und man findet auf ihnen eine Vielzahl von erhabenen und einzigartigen Dingen". Konrad Gesner hatte wenige Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1541, bekräftigt: "ich erkläre jeden zum Feind der Natur, der nicht die hohen Gebirge als einer langen Betrachtung würdig erachtet. Sicher, die am höchsten gelegenen Teile scheinen jenseits der gewöhnlichen Bedingungen zu sein und entziehen sich unserer Witterungsbedingungen, als ob sie zu einer anderen Welt gehörten".
Die Aufklärung versuchte, die mythische und spektrale Verzauberung zu zerstören, welche das Gebirge umhüllte, indem sie es als das enthüllte, was es war und ist: "eine Auftürmung von Felsschichten, um es mit Luis Trenker zu sagen, die verschiedensten Ursprungs sind, und die sich zur Höhe auffalten mussten unter dem Druck der gewaltigen Energien, die im Erdinneren herrschen. Und auf diesem enthüllten Gebirge konnte man Beobachtungen machen, erkunden, studieren und klettern, um ihnen mit Hilfe der Naturwissenschaften jeden Rest von Geheimnis zu nehmen".
Auch während und nach dem Jahrhundert der Aufklärung gab es aber welche, die mit einer kontemplativen und ästhetischen Bindung Widerstand leisteten, wie George Simmel, und welche wie Georg F.W. Hegel, der es sich im Jahr 1817 nicht nehmen ließ, das Gebirge mit dem Zustand des Menschen in ein Verhältnis zu setzen, der auf ihm lebt: "Ich bezweifle, dass auch der gläubigste Theologe hier wagen würde, nämlich auf diesen Bergen überhaupt, der Natur nur den Zweck zuzuweisen, für den Menschen nützlich zu sein, wo sie doch dagegen ihm das Wenige, dieses Erbärmliche, das er benutzen kann, rauben muss, und er nie sicher ist, nicht von Felsen oder Lawinen zermalmt zu werden bei seinem elenden Diebstahl, während er hier eine Handvoll Gras an sich rafft, oder dass sie ihm in einer Nacht das mühsame Werk seiner Hände zerstört habe, seine arme Hütte und den Kuhstall".
"Der Eindruck, den das Hochgebirge auf uns macht, ist für uns ein Symbol und eine Vorahnung der Tatsache, dass das Leben erlöst wird, sich zum Höchsten potenzierend, zu etwas, das nicht mehr zu seiner Form gehört, sondern es vielmehr überragt und vor ihm steht", schrieb Georg Simmel in einem den Alpen gewidmeten Aufsatz. Er war im Jahr 1892 einer der ersten, der den Gebirgen eine lyrische Stimme verlieh und den Emotionen eine Stärke und einen weltlichen Atem gab, die über Jahrtausende im harten Herz der Bewohner der Gebirgstäler verschlossen gewesen waren. Er schrieb weiter: "Wenn die Formen, wie in den Alpen, gänzlich zufällig zusammen gefügt wären, ohne dass es eine globale Linie gibt, welche sie vereint, würde auch die einzelne Linie nicht ihren Platz im Ganzen finden und daher isoliert bleiben, wenn die Masse der Materie, die sich unterhalb der Gipfel gleichmäßig ausbreitet, nicht wahrnehmbar wäre und ihre sinnlose Isolierung in einen einheitlichen Körper umwandeln würde".
Heute müssen die Alpen, wenn sie denn die 'schreckliche Modernität', die sie untrennbar mit der touristischen und wirtschaftlichen Dimension verbunden sieht und als Gefangene eines Nutzungsverhältnisses, und nicht als erhöht durch eine kontemplative Notwendigkeit, und die sie im Grunde auf die sportliche Eitelkeit des Menschen reduziert betrachtet, überleben soll, wieder ihre Beziehung von Theorie und Praxis zur Emotion finden. Die Emotion der Kontemplation. Das Gebirge als Szenario für die Offenbarung des Ego. Der Berghorizont nicht als Kontext für irgendwelche verabscheuenswürdige Tätigkeiten, sondern als Spiegel der Seele.

 

 

 

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