Kurz
 

SIND SIE WAHR ODER IST ES NUR EIN TRAUM?

Sonia Sbolzani

 
 

 

Das vollkommen verrückte Marketing unserer Zeit gibt sich jedes Jahr auf’s Neue große Mühe, die Wartezeit auf das weihnachtliche Ereignis mehr und mehr zu verkürzen. Schon Wochen vor diesem bedeutenden christlichen Fest sind die Supermärkte mit den traditionellen Panettoni in funkelnden und glänzenden  Verpackungen überfüllt, während die Medienwerbung mit einfältigen jingles und unerträglicher “Nächstenliebe” dem Ziel näher rücken.
Ich wähle das week-end vor dem Fest der Unbefleckten Empfängnis, das Unmengen von Touristen anzieht, und flüchte aus meiner Stadt in der Ebene nach Madonna di Campiglio.

Hier, inmitten dieser fantastischen, die Sinne erfreuenden  Natur, dieser Wärme der vor Stille pulsierenden Gassen  liegt das Herz – jenes Metronom der Seele, dem nur selten Gehör geschenkt wird –, das die wahre Atmosphäre der langsam und angemessen herannahenden Weihnachtsfeierlichkeiten versprüht, die sich nicht durch geschmacklose Lichterfluten in den Vitrinen zur Eile antreiben lässt.
Der abendliche Vorhang fällt schon in der zweiten Nachmittagshälfte und schafft den Sternen und dem Mond das passende Umfeld. Dies ist die Stunde, in der die Flämmchen der Laternen, die Lichter in den öffentlichen Lokalen, den Häusern angezündet werden und – was diese Atmosphäre noch suggestiver macht – das Glimmern der hier und da angefachten Kerzen sowie der kleinen Feuerchen hell erleuchtet, die an süße und würzige Aromen, Harfenmelodien und samtige Gemütlichkeit erinnern, während die nach Holz und Weihrauch duftenden Rauchsäulen erneut gen Himmel steigen.
Wandernd durch die bittere Kälte des ausgehenden Herbstes, inmitten von bläulichen Nebelschwaden, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie Wirklichkeit sind oder nur ein Traum, entferne ich mich vom Zentrum der Ortschaft. In dieser stillen Dunkelheit erreiche ich einen Tannenwald, der sich stolz zu dem felsigen Meer der vom Mond und dem Schnee in einen Silberhauch gehüllten Dolomiten hin öffnet. Unvermeidlich ist hier die Erinnerung an die Carducci-Verse “Lento nel pallido / candor de la giovine luna / stendesi il murmure de gli abeti…”? (In dem blassen /  Weiß des jungen Mondes / verbreitet sich langsam das Gemurmel der Tannen…). Selbst das Gemüt dieses strengen toskanischen Poeten war von diesem Schauspiel der Dolomiten in der von unserem Himmelskörper erhellten Finsternis gerührt.
Das knackende Unterholz unter meinen Füßen schweigt und nur eine vollkommene Stille ist zu vernehmen: nicht das geringste Rascheln eines Tieres in dieser friedlichen Idylle, in der selbst Gedanken Lärm erzeugen würden. Und so ist es ratsam, auch diese beiseite zu schieben, um sich ausschließlich dem Beobachten widmen  zu können. Ich fülle meine Lungen mit dem unvergesslichen Duft, den die letzten Sonnenstrahlen auf den von Rosen gesprenkelten Felsen hinterlassen haben, deren “kriegerischer Geist” dem geheimnisvollen Wesen der wilden Orchideen gleicht…
Bei der Betrachtung dieser Silhouetten, die insbesondere in dieser Finsternis wie Säulen einer gotischen Kathedrale erscheinen, spürt man nicht nur Poesie in der Luft, sondern auch Musik: denn widmete Strauß nicht gerade ihnen seine berühmte “Symphonie  der Berge”?
Und so kann man auch die unbeschreibliche Verwunderung von Buzzati beim Anblick dieses Mirakels nachempfinden: “Sind es Steine oder Wolken? Sind sie wahr oder nur ein Traum?”. Die Dolomiten, grausam, wie die Wirklichkeit, faszinierend, wie ein Zauber, sind vermutlich als eine Metapher des Lebens selbst zu verstehen: der Schatten eines vergänglichen Traums, soll der Troubadour Jaufré Rudel seiner geliebten Gräfin von Tripolis zugeflüstert haben.

 

 

 

 

 

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