Die Flüssigkeit: ein wesentliches Element der Musiksprache

Annely Zeni

 

“Das Wasser rauscht zwischen den Steinen, pfeift und bläst inmitten des Röhrichts, brummt, staut sich finster und verschlossen hier und da zum Ufer hin, während in seiner Mitte der dünne Wasserstreifen eines Flusses rinnt, so wie jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Stimmen, die sich in einem Wohlklang inmit-ten der zwei Ufer auf wundervolle Weise, vom Winde getrieben nähern, werden nur von den Silben des Wassers unterbrochen, die, wie die Akkorde einer Melodie, dem Rauschen einen immer wieder neuen Klang verleihen”. So wird die “Musik” des Wassers von Corrado Alvaro in Gente d’Aspromonte dargestellt: eine Musik, die die Komponisten aller Zeiten beeinflusste und somit ein immerwährendes Wasserkapitel im produktiven Rahmen einer jeden historiographischen Epoche schuf: von der Water Music von Händel bis zu den „aquaphones“ (Wasserinstrumenten) des Franzosen Jacques Dudon, das Wasser, das als Meer, Flüsse, Bäche und Stürme unter den Brücken von Debussy hindurchfließt (Reflets dan l’Eau, La mer), Saint-Saens (Aquarium), John Cage (eine weitere und experimentelle Water-Music), Vivaldi (“Der Sturm über dem Meer” und mindestens zwei Jahreszeitengewitter), Beethoven (Sechste Symphonie), Rossini und Verdi (das Temporale des “Barbiere”, die stürmische Epik von “Otello”, die Visionen des Meeres von Simon Boccanegra), Liszt und Respighi (“Jeau d’eau in der Villa d’Este”, “Brunnen von Rom”), Smetana (Die Moldau) und Strauss (An der schönen blauen Donau!). Nur um die berühmtesten Fälle zu nennen, in denen das Wasser eine bedeutende Rolle spielt. Oder auch das Werk von Wagner mit dem Rhein, das A und O der mythischen Sage um den Ring, das Symbol der Schöpfung selbst, eines mütterlichen Leibes (des Wassers eben), in dem man in die Unendlichkeit zurückkehrt, außer man verliert sich vorher in dem Labyrinth von Bach und dem Bächlein von Schubert. Doch neben der beschreibenden, direkten, symboli-schen oder gar kryptischen Kunst kann die Flüssigkeit, das Fließen auch als ein wesentliches Element der Musiksprache bezeichnet werden: das Wasser verläuft wie die Zeit, oder auch wie die Musik, die Kunst der Zeit; das Wasser rinnt durch die Finger, so wie ein Klang die Ohren berauscht, bevor er vergeht; das Wasser nimmt Tausende von Formen an und verwandelt sich im Raum, so wie die Musik ihre Zeichen in der Seele desjenigen setzt, der sie empfängt. Wie eine Allegorie des Dynamismus und eine Metapher der Zerbrechli-chkeit überschwemmt das Wasser insbesondere zwei Musikepochen: die Anfänge des instrumentalen 17. Jahrhunderts, das von Tokkaten, Fantasien, Capriccos, Narrheiten, schillernden Formen bei jedem Taktwe-chsel geprägt war, die in der Unvorhersehbarkeit ihres zutiefst schmerzhaften Verlaufs überraschten (Wasser aus Tränen und Lamento), und die Romantik, inmitten der fließenden Begleitmelodien auf dem Klavier von Schubert und der “Rubati” von Chopin, um die äußerste Grenze zu erreichen – den cupio dissolvi alias den “Schiffbruch erleiden ist mir süß in diesem Meer” - aus den Memoiren von Mahler.

 

 

 

 

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