DIE KONTEMPLATIVE GESELLSCHAFT

      Interview mit
      Félix de Almeida Mendonça

 

        Guillermo Ortega Noriega
       

 

 

 

 

 

 

 

Er baut auf eine Lebenserfahrung, die ihn zu einem Vorbild für jüngere Generationen macht, und ist außerdem ein Analytiker mit einer ungetrübten Sicht auf die Realität. Der Brasilianer Felix de Almeida Mendonça, Ingenieur, Konstrukteur und Politiker, seit 50 Jahren mit Maria Helena verheiratet und Vater von Cristiana, Andrea und Felix Jr., öffnete uns die Türen seines Sommerhauses gegenüber von Salvador de Bahía, am Playa de la Penha, Vera Cruz, auf der Isla de Itaparica, um uns dieses Interview zu geben, und dabei das köstliche Kokoswasser zu genießen, das dieses Land hervorbringt.

 

Mit Ihren 80 Jahren pendeln Sie weiterhin nach Brasília – fast 3000 Flugkilometer pro Woche, und das seit zwei Jahrzehnten, um Ihren politischen Aktivitäten in der Abgeordnetenkammer Brasiliens nachzugehen. Sie erledigen Ihre Arbeit mit Schwung und beneidenswert guter Laune – wie schaffen Sie das?
Ich gehe jeden Tag eine Stunde lang spazieren, ganz egal, wo ich mich gerade befinde. Während dieser Stunde bleiben meine Aufgaben und Pflichten vollständig außen vor – ich lasse mich voll und ganz auf den Genuss ein, den das Erleben der Natur mir bereitet. Ich glaube an die Möglichkeit, eine Gesellschaftsform zu erreichen, in der der menschliche Geist sich völlig von den alltäglichen Aufgaben befreit, um sei-ne Intelligenz zu erweitern. Durch die Kybernetik könnten Routinen von Maschinen übernommen werden. Und der Entwicklungsfortschritt der Spezies Mensch würde eine Besinnlichkeit und die Lust auf neue Entdeckungen schüren. Der Schutz vor Naturphänomenen, die die Arten bedrohen, oder die Lösung von Problemen, die der Mensch sich selbst geschaffen hat, wie zum Beispiel die globale Erwärmung, sind Beispiele dafür, was sich durch die Befreiung der Intelligenz erreichen ließe.

Im 72 km von São Paulo entfernten Santos haben es zwei Schülerinnen der Escuela de Surfe Radical mit Sitz am Strand von José Menino geschafft, nach nur zwei Monaten Training aufrecht auf dem Surfbrett zu stehen – und beide sind 80 Jahre alt. Sind Sie auch schon einmal gesurft?
F: Ich hatte nie Gelegenheit, an einem Ort zu leben, der von solch großartigen Wellen profitiert, wie sie es in Ihrem Land, Peru, gibt – das ja weltweit dafür bekannt ist, großartige Surfsportler hervorzubringen. Hier tut sich die Möglichkeit auf, einmal über den stetigen Wettbewerb nachzusinnen, der für alle Arten charakteristisch ist, und der sich beim Menschen zum Beispiel bei Sportwettkämpfen manifestiert. Genau dieser Wettkampfgeist ist es, der offensichtlich, aber natürlich in geringerem Maße, die-se beiden Damen – meine Altersgenossinnen – antreibt. Es hätte keinen Sinn, einem Ball hinterherzurennen, wenn es dabei nicht um einen Wettkampf ginge. Ein anderes Beispiel sind jene vermeintlich Verrückten, die einander in ihren Schlitten hinterherjagen, um auf jede nur erdenkliche Weise ihren Gegnern einen Sieg abzuringen.

Würden Sie sagen, dass bei all dem die genetische Weitergabe eine Rolle spielt?
Ja, es ist wahrscheinlich, dass im Falle des Menschen all dies vererbt worden ist; denn bereits ganz am Anfang steht ja der Wettbewerb, bei dem Spermatozoon, das sich auf ein Wettrennen begibt, um die Eizelle zu erreichen. Warum ha-ben denn die Tiere, die höheren Arten, die zweigeschlechtliche Fortpflanzung gewählt? Und warum gibt die Amöbe, die sich durch Zellteilung oder Zweiteilung fortpflanzt, im Moment ihrer Teilung den Anstoß zur Fortführung des Lebens?

Wenn man Sie von der Ankunft der Portugiesen im heutigen Brasilien sprechen hört, dann fühlt man sich in jene Tage zurückversetzt, in denen der Keim für die Identität des brasilianischen Volkes gesetzt wurde...
Man sollte sich die Gesellschaft des 16. Jahrhunderts vor Augen führen, die Pedro Alvarez Cabral hier vorfand. In jener Gesellschaft lebten die Menschen in absoluter Freiheit und Harmonie. Aus diesem Grund, und weil man nicht die leiseste Ahnung hatte, um wen es sich handelte, wurden unsere Entdecker mit offenen Armen und viel Enthusiasmus empfangen. Pero-Vaz de Caminha, der Schreiber von Cabrals Flotte, sagt über unser Land: “Unter ihnen befanden sich drei oder vier Mädchen, sehr jung und sehr anmutig, mit tiefschwarzen, lang auf den Rücken herabhängenden Haaren. Ihre Schamteile waren recht hoch, geschlossen, und von jedem Haarwuchs befreit, dergestalt, dass wir, obwohl wir sie eingehend betrachteten, keine Scham empfanden.”

Wann wird Ihrer Meinung nach in Brasilien eine kontemplative Gesellschaft geboren werden?
Aus den Erzählungen von Pero-Vaz de Caminha geht hervor, dass in die Persönlichkeit des Brasilianers der Indio die Sinnlichkeit und den Frohsinn, der Weiße die Gewissensbisse und der Schwarze das Fehlen letzterer, aber dafür die Muskelkraft seiner Vorfahren einbringt. Die kontemplative Gesellschaft muss sich einfach herausbilden, da der Mensch sich nur so von der körperlichen Arbeit befreit, um sich der Musik, der Philosophie, der Astronomie, seinen Sinneswahrnehmungen, seiner Urteilsfähigkeit widmen zu können, und insbesondere all jene Instrumente einzusetzen, mit denen er seine intellektuellen Fähigkeiten ausschöpfen kann. Warum sollten wir uns nicht vorstellen – als Intelligenzübung –, dass das Leben aus einem Gefühl des Genusses entstand? Wir stellen uns bei der Entstehung des Planeten verstreute Massen vor, auf die Magnetfelder einwirken, chemische Substanzen, die sich anziehen, schmelzen und sich zerteilen und schließlich die Entstehung von Leben ermöglichten. Jene Massen haben sich über Jahrtausende weiterentwickelt und die Ausbildung von unterschiedlichsten Lebewesen begünstigt – von primitivsten Lebensformen bis hin zu solchen Wesen, die sich immer weiter entwikkeln, wie zum Beispiel der Mensch. Der Genuss ist allen Lebensformen gemein.

Wäre also der Genuss das gesprochene Wort Gottes in der immer noch intakten Erinnerung an unser gesamtes Entstehen und unsere Entwicklung – bis die Intelligenz einmal so große Fortschritte erreicht haben wird, dass sie unsere Ursprünge rekonstruieren kann?
Wer sollte das beantworten können? Jedoch trifft es zu, dass – solange dieser Impuls nicht gegeben wird – der Mensch in seiner biologischen Evolution fortfahren wird, wenn auch natürlich langsamer. Nichtsdestotrotz verzeichnet die Forschung ja entgegen allen Erwartungen bereits beeindruckende Erfolge bei der Erforschung der Regeneration von Organen mit Hilfe von Stammzellen, und noch dazu mit einer Waghalsigkeit, die man sich nie vorgestellt hätte, wie bei der Modifizierung der genetischenStruktur, die für das Älterwerden verantwortlich ist. Dies ist für mich von besonderem Interesse: Ich hoffe, dass ich große Fortschritte miterleben werde, die es dem Menschen und auch mir selbst ermöglichen werden, bei bester Gesundheit den 150. Geburtstag zu feiern.

 
 
 
 
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