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2009, Greifer und Revolutionen |
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Texte von Silo* Zeichnungen von Kalvellido |
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In dieser Ausgabe des Magazins teilen wir mit unseren Lesern ein Kapitel der Erzählung “El día del León Alado” (Der Tag des geflügelten Löwen) aus dem gleichnamigen Buch von Silo. Dieser Text, dessen Sprache Ausdruck von Möglichkeit, Mobilität und Transformismus ist, die bedeutend größer sind als jene der politischen oder sozioökonomischen Kategorien, in denen wir es gewöhnt sind, uns zu bewegen, ist nicht zwangsläufig den Parametern der unterschiedlichen Epochen unterworfen.
Ich hoffe, dass diese Worte die schrittweise erwachende menschliche Sensibilität mit derselben Freiheit und mit derselben Genugtuung berühren werden, die ich beim Lesen jedes Mal empfinde. Ich hoffe auch, dass diese Worte jedes Mal in Erinnerung gerufen werden, wenn sich die Zukunft zu verdüstern und es keinen Ausweg mehr zu geben scheint, damit jeder Tag dieses Jahres eine wahrhafte revolutionäre Kreation sein kann.
Michel Balivo
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Die lebenden Charaktere
Ténetor III hielt sich in der Höhle auf. Er war in der Lage, in den Außenbereich zu gelangen. „Welcher Außenbereich?“, fragte er sich. Er hätte einfach den Helm abnehmen können, um sich im schalltoten Raum sitzend wiederzufinden. Angesichts dieser Zweifel erinnerte er sich an das Ableben von Ténetor II und an die zusammenhanglose Information, die das Kristall bei seiner Aktivierung geliefert hat: eine monotone Holografie, bei der der Forscher etwas sang, das an eine lange Klage erinnerte. Das war alles. Doch er erinnerte sich auch an die Stimme seines Lehrers; er hörte die Verse, die vor langer Zeit als Meeresbrise erklangen; er lauschte der Streichmusik und dem Klang der Synthesizer; er sah die phosphoreszierenden Gemälde und die Bilder auf den Wänden aus flexiblem Mangan; er berührte die empfindlichen Skulpturen erneut mit seiner Haut ... Von ihm erfuhr er die Dimension jener Kunst, die die tiefen Räume berührte. Diese sind so tief wie die schwarzen Augen von Jalina, so tief wie dieser mysteriöse Tunnel. Er atmete tief ein und bewegte sich zum Ausgang der Grotte.
Es war ein schöner Nachmittag, an dem alle Farben zu explodieren schienen. Die Sonne verfärbte die Umrisse des Gebirges rot, während sich die beiden weit entfernten Flüsse durch das Glänzen von Gold und Silber schlängelten. Nun war Ténetor III bei jener Situation dabei, die die Holografie auf bruchstückhafte Weise zeigte. Dort stand sein Vorgänger, der, Mesopotamien zugewandt, Folgendes sang:
Oh Vater, nimm die heiligen Buchstaben aus dem Verborgenen.
Bring diese Quelle näher, bei der ich immer die offenen Verzweigungen der Zukunftsehen konnte!
Und während er sang, vervielfältigte sich das weit entfernte Echo, und im Himmel erschien ein Punkt, der rasch näher kam. Ténetor richtete seinen Zoom auf diese Entfernung aus und konnte nun deutlich die Flügel und den Kopf eines Adlers sowie den Körper und den Schwanz eines Löwen erkennen: ein majestätisch anmutender Flug, ein lebendiges Metall, ein Mythos und ein sich bewegendes Gedicht, das die Strahlen der untergehenden Sonne reflektierte. Der Gesang dauerte an, während die geflügelte Gestalt ihre kräftigen Löwenpranken ausfuhr. Dann machte sich Ruhe breit und der Greif öffnete seinen enormen Elfenbeinschnabel, um einen Schrei loszulassen, der bis in die Talebene dröhnte und die Kräfte der unterirdischen Schlange erweckte. Einige hohe Steine zerbröckelten undverursachten beiihrem Aufprall Sandund Staubwolken. Alles beruhigte sich, als sich das Tier sanft auf der Erde niederließ. Nun sprang ein Ritter vor dem Mann auf, der innerlich für die lang ersehnte Ankunft des Vaters dankbar war.
Der Ritter nahm aus seiner Satteltasche, die am Greif hing, ein großes Buch heraus, das so antik wie die Welt selbst war. Dann genossen Vater und Sohn auf dem steinigen, farbenfrohen Boden sitzend den Sonnenuntergang; sie sahen sich lange Zeit an und öffneten den alten Band. Mit jeder Seite kamen Sie dem Kosmos näher; in einem einzigen Buchstaben sahen sie die spiralförmigen Bewegungen der Galaxien: offene Sternhaufen. Die Buchstaben tanzten auf dem antiken Pergament und ermöglichten so das Ablesen der Bewegungen des Kosmos.
Dann standen die beiden Männer (angenommen, es handelte sich um Männer) auf. Der ältere, mit langer Kleidung, die von der Willkür des Windes zerzaust und bewegt wurde, lächelte auf eine Weise wie noch kein anderer auf dieser Welt lächeln konnte. Im Herzen von Ténetor III hallten seine Worte wider: „Eine neue Art öffnet sich dem Universum. Unser Besuch ist zu Ende!“ Und nichts anderes.
Nichts anderes. Vor den Augen von Ténetor lagen die Flüsse, die sich zwischen dem Glänzen von Gold und Silber schlängelten und sich um ein Haar in arterielle und venöse Verzweigungen verwandelten, die seinen Körper durchströmten. In seinem Blickfeld erschien nun seine Lunge, die die Bewegungen seiner Atmung offenbarten, und das gab ihm zu verstehen, woher der Flügelschlag des Greifs kam. In einem abgelegenen Winkel seines Gedächtnisses konnte er die mythischen Bilder wiederfinden, deren Entstehung er auf realistische Weise erlebt hatte.
Er entschied sich, zur Grotte zurückzukehren, während er die alphanumerische Spal-te beobachtete, die auf einer Seite des Bildschirms ablief. Sofort zeigte die Tafel die Bewegung, die ihm die Bilder auf kaum wahrnehmbare Weise in seine Beine übertrugen und somit in die Höhle eindrang. „Ich weiß, was ich mache“, dachte er, „ich weiß, was ich mache!“. Doch diese vor sich hin gesagten Worte drangen nach Außen und erreichten von Außen sein Gehör. Die Felswand betrachtend hörte er Sätze, die sich darauf bezogen … Er war dabei, die Grenzen der verbalen Kommunikation zu durchbrechen, in der sich die unterschiedlichen Sinne kreuzten; vielleicht erinnerte er sich aus diesem Grund an diese Verse, die sein Lehrer einst zitierte:
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A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu:
voyelles. Je dirai quelque jour vos naissances latentes(1)
Dann sah er einen Stein, dessen Spitzen sich wie farbenfrohe Blumen öffneten und inmitten dieses Kaleidoskops erkannte er, dass er die Barriere des Sehens durchbrach. Er überschritt alle Sinne, genau so wie es die tiefgründige Kunst macht, wenn sie die Grenzen des Raums der Existenz berührt. Er nahm den Helm ab und fand sich im schalltoten Raum wieder; doch er war nicht allein. Aus irgendeinem Grund war die ganze Abteilung um ihn herum. Jalina küsste ihn sanft, während die Ungeduld der Anwesenden deutlich erkennbar wurde.
-Ich werde nichts sagen! -waren die skandalösen Worte von Ténetor. Doch dann erklärte er, dass er sich sofort daran machen würde, einen Bericht auszuarbeiten, den die anderen nicht kennen durften, bis jeder seinen eigenen Teil gemacht hat. Auf diese Weise wurde entschieden, dass die Mitglieder der Abteilung, einer nach dem anderen, eine Reise in den virtuellen Raum machen würden. Schließlich würden die Daten ohne gegenseitige Einflüsse ausgearbeitet werden und nur dann wäre der Moment gekommen, mit der Diskussion zu beginnen. Denn wenn alle dieselbe Landschaft im puren virtuellen Raum erkannt hätten, wäre das Projekt umgesetzt worden. Und auf welche Weise hätte man es der ganzen Welt zugänglich gemacht? Auf jene Weise, die für alle Technologien angewandt wird. Zudem wurden die Vertriebskanäle des Netzes jener außergewöhnlichen Personen geöffnet, die das äußere Gehäuse verlassen haben, auf das die menschliche Art reduziert wurde. Nun wusste er, dass er existierte und dass alle anderen existierten und dass diese die erste einer langen Reihe von Prioritäten war. |
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Dann sah er einen Stein, dessen Spitzen sich wie farbenfrohe Blumen öffneten... |
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Keine Unterstützung für Planetenkolonien!
-Guten Tag, Frau Walker.
-Guten Tag, Herr Ho.
-Ich nehme an, Sie haben den Morgenbericht gelesen.
-Ja, gewiss.
-Ich nehme auch an, dass Sie als Antwort auf die tägliche Frage nach Ihrer Meinung entschieden haben, sich bezüglich der Planetenkolonien Gehör zu verschaffen.
-Genau so ist es, Herr Ho. Genau so. Niemand auf dieser Erde kann ein derart kostspieliges Projekt fördern, solange kein einziger Mensch unterhalb und das erscheint mir scheußlich zu sein des Lebensstandards bleibt, den wir alle genießen.
-Es stimmt mich fröhlich, Ihnen zuzuhören, Frau Walker. Es stimmt mich so fröhlich! Aber können Sie mir sagen, wann die Veränderungen begonnen haben? Wann wurde uns bewusst, dass wir existieren und dass daher auch die anderen existieren? Nun weiß ich, dass ich existiere. Was für eine Dummheit! Stimmt das nicht, Frau Walker?
-Das ist keine Dummheit. Ich existiere, weil Sie existieren und umgekehrt. Das ist die Realität, alles andere ist eine Dummheit. Ich glaube, dass die Jungs von … wie hieß er? „Langsame Intelligenz“ oder so ähnlich?
-DasKomiteezurVerteidigungdesschwachen Nervensystems. Niemand erinnert sich an sie, weshalb ich ihnen einige Verse gewidmet habe.
-Ja, ja. Gut, die Jungs haben sich ins Zeug gelegt, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Eigentlich weiß ich nicht, wie sie das gemacht haben, aber sie haben es gemacht. Anderenfalls hätten wir uns in Ameisen oder in Bienen oder in Trifinus melancolicus verwandelt! Wir haben nichts bemerkt. Zumindest für einige Zeit; vielleicht hätten wir nicht das erlebt, was wir erleben. Für Clotilde, Damián und viele andere, die die Veränderung nicht sehen konnten, tut es mir leid. Sie waren wirklich verzweifelt; das Schlimmste daran war, dass sie den Grund dafür nicht kannten. Blicken wir jedoch in die Zukunft. |
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Ich habe von ihm geträumt
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-So istes,soistes.Diegesamtegesellschaftliche Ordnung, sofern man sie so nennen kann, bricht zusammen. Innerhalb kurzer Zeit ist sie zur Gänze zerbröckelt. Es ist unglaublich! Doch diese Krise ist es wert, erlebt zu werden. Einige erschrecken, denn sie glauben, dass sie etwas verlieren, aber was haben sie zu verlieren? Ausgerechnet jetzt sind wir im Begriff, eine neue Gesellschaft zu errichten. Und wenn wir unser Hause ingerichtet haben, machen wir einen großen Sprung nach vorne. Dann können wir uns auch den Planetenkolonien, den Galaxien und der Unsterblichkeit widmen. Die Tatsache, dass wir in Zukunft eine neue Dummheit begehen können, beunruhigt mich nicht, denn mittlerweile sind wir erwachsen und allem Anschein nach ist unsere Art in der Lage, selbst mit den schwierigsten Situationen umzugehen.
-Sie haben mit Programmen des virtuellen Raums begonnen. Sie haben sie so aufgebaut, dass alle spielen wollten. Auf diese Weise haben die Personen bald erkannt, keine nichts sagenden Figuren zu sein. Sie haben erkannt, dass sie existieren. Die Jungs waren der ausschlaggebende Faktor von etwas, das auf jeden Fall passieren musste, anderenfalls könnte man die Geschwindigkeit dieser Sache nicht erklären. Die Menschen haben alles selbst in die Hand genommen, das wurde auch Zeit! Die Schlussfolgerung der Geschichte war spektakulär, denn 85 % der Weltbevölkerung träumte vom geflügelten Löwen oder hat ihn tatsächlich gesehen und auch die Worte des Besuchers gehört, der in seine Welt zurückkehrte. Ich habe ihn gesehen, und Sie? -Ich habe von ihm geträumt.
-Das ist dasselbe … Wäre es angesichts der Tatsache, dass wir zum ersten Mal miteinander sprechen, zu viel verlangt, wenn ich Sie um einen großen Gefallen bitten würde?
-Machen Sie nur, Frau Walker. Wir leben in einer neuen Welt und es fällt uns noch immer schwer, offenere Kommunikationsmethod en zu finden.
-Könnten Sie mir Ihre Gedichte vorlesen? Ich kann mir vorstellen, dass sie wirkungslos, willkürlich und vor allem ermutigend sind. -Genau so ist es, Frau Walker. Sie sind wirkungslos und ermutigend. Ich lese sie Ihnen vor, wann immer sie möchten. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Tag.
(1)„A schwarz, E weiß, I rot, U grün, O blau:
Vokale, eines Tages werde ich eure latenten Geburten sagen“.
Arthur Rimbau, Vocali, Werkein Versen und in Prosa, ital. Übers.
von Dario Bellezza. Garzanti, Mailand 1989.
* Mario Luis Rodriguez Cobos |
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