NUMMER 9

     

Vom Wasser, von der Luft, von der Erde, vom Feuer und von anderen Sentimentalitäten
Im Gedenken an Schumann und Chopin

Annely Zeni


 

1810: Was haben der Pole – im Randgebiete des nahezu unaussprechlichen Ortes Zelazowa Wola geborene – Fryderyck Chopin und der Deutsche – in der mittelalterlichen sächsischen Stadt Zwickau geborene – Robert Schumann gemein, abgesehen vom Geburtsjahr? Auf jeden Fall die faszinierende kulturelle Zeit von Leopardi und Schopenhauer, von Hölderlin und Keats, von Novalis und Wordsworth, von Blake und Turner, von Hugo und Byron, von Gericault und Shelley, eine künstlerische Idealsprache, die der literarisch gebildete Schumann fantasievoll in den Davidsbündlertänzen darstellte, in Wort und Musik Verteidiger der neuen romantischen Sprache, während der weniger gebildete Chopin (der Briefe lieber mit Musikstücken beantwortete) neben der temperamentvollen George Sand, einer kontroversen Schriftstellerin mit ausgefallenen Ideen, die es liebte sich mit der antikonformistischsten und revolutionärsten französischen Intelligenzia zu umgeben, in der lieblichen französischen Landschaft bei Nohant lebte. Heute, wo die Melodien der Nocturnen oder das Floß der Medusa zum Allgemeingut gehören, ja, geradezu abgenutzt sind, ist es schwer vorstellbar, dass diese als „subversive” und „aufrührerische” Werke der Romantik galten und mit Begeisterung von den jungen Intellektuellen aufgenommen wurden: „Oh ihr Jungen, ihr habt einen langen und schwierigen Weg vor euch: Am Himmel schwebt eine seltsame rote Farbe, ich weiß nicht, ob Abend- oder Morgenrot. Lasst es Licht werden”, fordert Meister Raro den überschwänglichen Florestan auf, um bei den symbolischen Kreationen Schumanns zu bleiben. Eine Welt, die Emotionen beanspruchte – eine seltsame rote Farbe -, die gebieterische Macht vollkommener Leidenschaft – liebender und politischer –, zusammentreffend mit Kreativität selbst – blind und unkontrollierbar – in einem beunruhigenden Widerspruch zwischen Lebenshunger und Todesangst: So vereint und vermischt das typische Bild des romantischen Künstlers das irdische Drama Chopins und Schumanns, beide von physischer und psychischer Schwäche gezeichnet, beide vorherbestimmt, früh zu sterben (1849 und 1856), zynischerweise durch „Mode”-Erkrankungen: durch Schwindsucht, das typische Aufzehren der Lebenskraft in der angespannten Erwartung der Unendlichkeit, und durch Wahnsinn, Statussymbol einer Wahrheit jenseits der Grenzen der Vernunft. Aber abgesehen von Cliché und Ausschweifungen, von künstlerischer Sehnsucht und alltäglichem Elend, abgesehen von den Sentimentalitäten von Clara und George, den teuflischen Übereinstimmungen zwischen Kunst und Leben, teilten Schumann und Chopin diese Haltung von ausdauernder Forschung und Experimentieren mit Neuem, die die authentischste Natur des Genies in den Geist der Avantgarde stellt. Man denke – nicht ohne wieder auf den Gemeinplatz der göttlichen Inspiration des Genies zwischen einem Nervenzusammenbruch und dem nächsten zu treffen – an die Geduldsarbeit Chopins, der sich, wie es romantisch von der Sand beschrieben wurde, in einem Zimmer einschloss und, wie sie sagte, tagelang „weinend und fantasierend” an den paar Takten einer Prélude arbeitete, oder an die intensive Arbeit Schumanns, der im symphonischen Ausdruck alternative Möglichkeiten suchte, um dem drohenden Schatten Beethovens zu entfliehen. Die Methode, die so aus dem Fenster der Aufklärung kam, trat durch die Tür der Romantik wieder ein und definiert sich für beide in präzisen Strategien: Im Falle Schumanns findet die Erneuerung durch außermusikalische beschreibende Elemente statt, die die Form in eine erzählerische und – zumindest scheinbar – in eine konkret fantasievolle Dimension überleiten. Für Chopin hingegen scheint der avantgardistische Impuls in traditionellen Formen enthalten gewesen zu sein müssen: Sonaten, Etüden, die Nocturnen (die den Iren Field zum Vorbild hatten), wenn nicht gar die des 18. Jahrhunderts wie die Prélude, unwillig in der deskriptiven Absicht, gewollt abstrakt.
Beschränkt man das Gesichtsfeld auf ein „Herz der Romantik”, das ganz für das Piano schlägt – natürlich mehr bei Schumann, da Chopin ausschließlich für die gesamte Klaviatur komponierte – so enthüllt das Werk beider eine sympathische Vorliebe für kurze Stücke, die besser zu der Fulminanz direkter Gefühle passen, welche die Methode dennoch zyklisch aufbaut. Der Ausdruck der Form bringt so subtile intellektuelle Raffinesse ins Spiel, die deutlich wird, wenn man zwei berühmte Klavierzyklen wie den Carneval, Op. 9 von Schumann und die Etüden Op. 10 von Chopin betrachtet. Das Bachsche Spiel der Sphinxen (so entsprechen die Buchstaben des Nachnamens Schumann den Noten a, es, c, h) knüpft ein Netz von Verbindungen zwischen den einzelnen Miniaturen, während die Wahl der Tonalität, die Verteilung der Agogiken, die Eigenschaften der Klaviertechniken, die jedes Mal untersucht werden, bei den Etüden Chopins einem präzisen Plan entsprechen. Das Ergebnis des Ausdrucks hingegen scheint die Ziele in eine Art rhetorischen Chiasmus zu stürzen, wodurch der abstrakte Chopin beschreibende Töne annimmt, während der beschreibende Schumann nicht anders kann, als philosophisch deutsch zu sein. Die facettenreiche Vielfalt des Carnevals verbirgt in der Tat „den tieferen Sinn der Existenz, sein ständiges Werden (das Fest), seine Vielfalt (die Masken), die menschliche Einsamkeit (Aveu), die glückliche Einigkeit, die die Menschen im Laufe der Zeit suchen und finden, im Zeichen eines verschleierten Nihilismus (G.Rausa). In den Etüden hingegen endet das Herausfiltern des technischen Elements mit dem anspielungsreichen Wesen eines im Großen und Ganzen landschaftlichen Prinzips, so wie auch in der Malerei der Hintergrund zum Zentrum der Aufmerksamkeit wird: Das Wasser fließt im Arpeggio der Etüde in b, der Wind weht sanft im zweiten Teil der Sammlung, die Erde drückt sich in den schweren Akkorden des dritten Teils aus und das Feuer entflammt im vierten (tatsächlich lautet die Bezeichnung „Presto con fuoco”): Prophezeiung eines romantischen Gefühls, das sich in raffinierten impressionistischen Analogien auflöst. Und von dort aus ist es nicht mehr weit zu Baudelaires „lebenden Säulen”.

 
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