ÜBER INFORMATIONEN,
DAS TREFFEN DER RICHTIGEN WAHL UND ENTWICKLUNG
Tito Boeri
Wissenschaftlicher Leiter des Festivals der Wirtschaft
Als ich ins Gymnasium ging, verging kein Tag, an dem mir nicht bei Betreten der Schule ein Flugblatt in die Hände geriet. Oft waren es mehr als eins. Heute sind sie eine Seltenheit. Um heute seinem Unbehagen Ausdruck zu verleihen und möglichst breite Aufmerksamkeit zu erregen, schreibt man heute kein Manifest mehr, beruft keine Versammlung mehr ein und organisiert keinen Protestmarsch mehr. Man wendet sich in immer geringerem Maße an die Gewerkschaften, die lokalen Verbindungen oder Parteien. Diesen „Transmissionsriemen”, der das Konkrete mit dem Allgemeinen verbindet, gibt es heute nicht mehr. Heute muss man versuchen, auf die Titelseiten zu kommen. Die Arbeiter des Unternehmens INNSE in Mailand, die auf einen Kran stiegen, um gegen die Schließung ihrer Fabrik zu protestieren, haben Schule gemacht.
Ihre Stimme wurde gehört. Aber wie viele andere? Die Aufmerksamkeit der Massenmedien ist eine sehr selektive. Heute sind auch Arbeiter, die auf Dächer steigen, kein Knüller mehr. Da muss man schon das ehemalige Gefängnis der sardinischen Insel Asinara besetzen, wie dies die auf Kurzarbeit gesetzten Arbeiter der Firma Vinyls gemacht haben. Und was wird man sich nach dem flugs in „Insel der Kurzarbeiter” umgetauften besetzten Eiland Asinari noch alles einfallen lassen müssen? Die Welt, in der wir leben, ist immer reicher an Informationen und immer ärmer an Aufmerksamkeit. Das, was wir unmittelbar mit Augen und Ohren erfassen können, wird zur immer spärlicheren Ressource. Die großen Zampanos von heute, das sind die Herren der Aufmerksamkeit, diejenigen, die die Medien kontrollieren, also jene Programme, denen am meisten Gehör geschenkt wird. Diese Medienzaren zählen heute mehr als diejenigen, die das physische Kapital halten. Sie sind wesentlich einflussreicher als die Besitzer von Fabriken, Eisenbahnen oder von großen Einkaufszentren.
An Informationen heranzukommen ist oft kostspielig, ganz im Gegensatz zu ihrer Verbreitung und Reproduktion. Das Sammeln von Informationen ist mit hohen Fixkosten verbunden, während deren Übertragung nur äußerst geringe Kosten verursacht. Durch technologische Innovationen wie das Internet wurden Milliarden Menschen potenziell Informationen zum Nulltarif verfügbar gemacht. Da es immer leichter wird, Informationen zu verbreiten, wird es auch immer einfacher, sich ihrer zu bemächtigen, ohne deren Quelle, also die geistige Urheberschaft anzuerkennen. Dies kann den Verkauf von Informationen, also die Wiedereinbringung der „Produktionskosten” durch diejenigen, die diese getragen haben, unmöglich machen. Dies kann auch zum Zusammenbruch oder zu einem starken Abbau von ganzen Informationsmärkten, wie jenem der gedruckten Medien führen, welche erhöhte Produktionskosten aufweisen.
Die Krise der Informationserzeuger kann diese besonders anfällig für Beeinflussung und Konditionierung durch wirtschaftliche und politische Macht machen. Eine immer wichtigere Finanzierungsquelle für Informationserzeuger, denen es nicht gelingt, ihre Kosten durch die Benutzer abzudecken, stellt die Werbung dar. Aber auch Werbung kann als Waffe für erpresserische Zwecke eingesetzt werden. Es wird wohl niemandem schwer fallen, hierfür treffende Beispiele zu finden. Dieser ausgeübte Druck und diese Beeinflussungen sind nicht leicht zu durchschauen, subtil und manchmal wenig offensichtlich, weswegen diejenigen, die Zugriff auf diese Informationen haben, oft nicht imstande sind, ihren wahren Charakter einzuschätzen und nicht leicht erkennen können, welche ganz und gar nicht objektiven Partikularinteressen hinter diesen Informationen stecken. Dies wirft einige beunruhigende Fragen über die Ausübung der demokratischen Kontrolle durch die Bürger auf. Auch die Desinformation birgt beträchtliche wirtschaftliche Kosten in sich. Ohne Informationen geht die eigentliche Funktion der Preise verloren, ohne Information können die Märkte nicht funktionieren. Ein Beispiel, das einem in Bezug auf die Folgekosten, die durch das Fehlen von Informationen oder das Vorhandensein von wenig glaubwürdigen Informationen erzeugt werden, sofort in den Sinn kommt, ist der Ursprung der großen Rezession der Jahre 2008-2009.
Der Zusammenbruch von ganzen Segmenten der Finanzmärkte war in Wirklichkeit das Produkt von immer stärker ausgeprägten Informationsasymmetrien. Banken, die einander nicht mehr über den weg trauten, wussten, dass sich alle diese „toxischen Finanztitel” im Umlauf befanden, und dass die Geldinstitute, die diese in großer Anzahl hielten, alles unternehmen würden, um diese loszuwerden und nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben. Auch Banken, die in Wahrheit nur in geringem Maße „vergiftet” und daher begierig waren, den guten Zustand ihrer Bilanzen öffentlich kundzumachen, fanden kein Mittel, um die beruhigenden Informationen, die von ihnen an die Märkte übermittelt wurden, glaubwürdig erscheinen zu lassen. Und tatsächlich besitzen Informationen nur in dem Maße einen Wert, in dem sie glaubwürdig sind. Für einen Menschen, der Arbeit sucht und einen potenziellen Arbeitgeber von seinen eigenen Qualitäten überzeugen will, reicht es nicht aus, einfach nur zu verkünden, dass er in der Lage ist, die Aufgabe gut zu erfüllen. Er muss einen Weg finden, um die eigenen Qualitäten für diesen Arbeitgeber sichtbar zu machen, um diesen davon zu überzeugen, mit ihm die richtige Wahl zu treffen. Wenn der Kandidat über herzeigbare akademische Titel verfügt, wird er diese irgendwie „ins Bild” rücken, sei es auch nur, um auf die eigenen Fähigkeiten hinzuweisen. Der unausgesprochene Gedanke dahinter: Wer so gut ist, solche Abschlüsse zu bekommen, wird sich auch in anderen Jobs bewähren.
Aber nicht immer wollen Arbeitgeber über die Qualitäten ihrer Angestellten oder Beschäftigten versichert werden. Vor einigen Tagen wurde ich Zeuge einer deprimierenden Vorfalls, der einem zugleich das Blut in den Adern gefrieren lässt, und den ich hier so schildern möchte, wie er sich beinahe wortwörtlich zugetragen hat. Ein junger Forscher wird von einer Einrichtung der öffentlichen Hand aufgenommen. Die Arbeit ist oft nur Routine und deutlich unter seinen eigenen Ansprüchen. Die Beziehung mit Chef ist steif-formal. Aber ab und zu kommt es zu einem Dialog und in einem von ihnen gibt der Chef folgende Lektion fürs Leben: „Du täuschst dich, wenn du glaubst, dass deine brillanten Titel, die du auf ausländischen Universitäten erworben hast, für deine Karriere wichtig sind. Schau, um zu erreichen, dass ich zum Chef ernannt wurde, musste ich ein dickes Dossier mit obskuren und wenig lobenswerten Fakten zusammenstellen, das mich erpressbar macht. Dieses Dossier garantiert denjenigen, die mich ernannt haben, meinen Gehorsam. Es ist mein Passierschein für die Karriere”.
Die kriminellen Organisationen basieren auf Tauschhändel desselben Typs, bei denen die in der Hierarchie Höhergestellten sich die Treue ihrer Untergebenen über die Erpressung sichern, welche durch den Besitz von kompromittierenden Informationen über sie möglich wird. Diese Informationen müssen gerade deswegen vertraulich bleiben, damit die Erpressung vollzogen werden kann. Vielleicht besteht der wahre Grund, warum eine nicht gerade kleine Anzahl der Angehörigen der führenden Klasse in Italien einen „Lauschangriff” ablehnt darin, dass durch ihn kompromittierende Informationen öffentlich gemacht zu werden drohen, die eigentlich vertraulich bleiben sollten, um hierarchische Beziehungen oder ein Gleichgewicht der Macht einzuzementieren, das auf dem System der gegenseitigen Erpressung beruht.
Von diesen und anderen Themen werden wir bei der fünften Ausgabe des Festivals sprechen. Wir werden versuchen, Ihnen ein Rüstzeug zu liefern, um wirtschaftliche Informationen auf der Grundlage ihrer Wichtigkeit und Glaubwürdigkeit auszuwählen und um die so häufig von der politischen Macht gering geschätzten Statistiken richtig zu lesen. Wir werden alles versuchen, um uns auch dieses Jahr wieder Ihrer Aufmerksamkeit als würdig zu erweisen.
|