NUMMER 9

     

Von den Alpen bis zur Tatra

Nicolas Boldych


 

Janus des Westens
Der Horizont Europas ist für mich weder die Ebene noch das Meer, sondern die Berge, die den Weg zum Meer oder zur Ebene versperren; Berge die, indem sie den Kontinent teilen, ihm diesen europäischen Körper verleihen, der aus Einheit und Zersplitterung besteht. Der Blick steigt empor, statt sich in der Ferne zu verlieren, und konzentriert sich auf die albos, die „Welt des Lichts”, die die Kelten faszinierte. Der Körper, obwohl in Halbinseln und Archipele geteilt, bleibt unerschütterlich mit den Bergen verbunden, die ihm Kraft und Energie, Muskeln, ein Rückgrat verleihen. Eine Horizontalität wird von einer Vertikalität unterbrochen; eine Dynamik wird unterbrochen, um eine weitere entstehen zu lassen. In den Alpen, dem Gebiet der albos, stolpert der Norden und stützt sich auf die Berge, während sich von dort – wie ein Fächer – der Süden öffnet – sonnig und wasserreich, fließend und kaiserlich. Der Vorhang aus Bergen schützt das Geheimnis einer anderen Zivilisation und auch einer anderen Zeitlichkeit. Auf der anderen Seite der Berge ist das Römische Reich, eine andere Auffassung von Zeit, die Ewigkeit der Antike. Diesen Übergang zu überschreiten ist wie das Durchschreiten einer geheimen Tür, wie das Eintreten in eine andere Welt. Sperre, Filter, Schleuse, aber auch Durchgang sind die Berge, zweigesichtiger Januskopf: ein Gesicht nach Norden und das andere nach Süden, zur Gegenwart und zur Vergangenheit gewandt. Im Westen befinden sich zunächst die Alpen, die dort aufgetürmt einen Bogen beschreiben. Genua, der Montgenèvre, der Monte Giano in Savoyen, Genf, eine Reihe wichtiger Punkte, die uns an den Gott der Tore erinnern: Janus.

Die Kraft der Berge

In Genf, nicht weit vom Mont Blanc – ein wichtiges Rad im großen Getriebe der Westalpen – beschreiben die Berge eine Kurve, werden dichter und verzweigen sich, bis alle Länder in ihrem riesigen Plan, ihrem Spannungsbogen vereint sind: die Schweiz ist das Tibet Europas, wo sich eine Kluft zwischen den Gewässern, den Sprachen und den Menschen befindet. Es ist schön, in die Schweiz zu reisen, wenn man dort nicht lebt. Eine starke Welt, beruhigend und mütterlich zugleich: ein Land umgeben von einem Bollwerk von Bergen, die zusammenhalten, sammeln, ordnen, bewahren, aber auch etwas zurückgeben: die Fluten des Rheins und der Rhone, die universellen Bilder Klees, die stürmische Sprache Cendrars’, und die Cingrias, von einer extremen Dichte, holprig, knapp, straff.

Die Filter der Dolomiten
Im Süden, wie losgelöst, befinden sich die Dolomiten: bewährte, monumentale, vereinzelte Berge, die dort gehäuft auftreten, wo Deutschland und Italien zusammentreffen, während im nahen Friaul bereits die slawische Welt vorgedrungen ist. Gruppen verketteter Berge, die ununterbrochene Wellen bilden wie in der Schweiz, während andere sich wie große Räder auf 360 Grad ausdehnen. Dies sind die Dolomiten. Anders als in der Schweiz filtern sie, anstatt dass sie zurückhalten: alte durchbrochene Berge, die widersprüchliche Lichter hindurchlassen, die sich in den Tanz von Schatten und Licht mischen.

Die orphischen Berge
Zwischen den Alpen und den Karpaten liegt Wien, die Wächterin, Wien, die Schwelle, die Furt, die eine Lücke bildende Ebene. Wien als Hauptstadt der Berge? Nein, Wien ist lässig und herausgeputzt, voller Akkorde und Harmonien, wenn auch dominiert von einer mineralischen städtischen Geometrie, gleichzeitig konzentrisch und geradlinig, meisterhaft in Szene gesetzt. Nach der Ruhe der Donau in Wien erscheint die rebellische Bewegung wieder in der Tatra, den „Alpen” des Ostens, die sich zur ukrainischen Ebene hin öffnen wie eine Westausdehnung der Karpaten. Drei Namen für die Berge, das Rückgrat, das Europa seinen lebendigen, muskulösen und widersprüchlichen Körper verleiht: Alpen, Tatra, Karpaten. Nicht weit entfernt im Osten Bratislavas entstehen diese östlichen Berge, die einem Schädel ähneln, in dem sich das alte ungarische Reich niedergelassen hatte. Diese Berge haben sich gegen die Ebene aufgelehnt und so einen See im königlichen Ungarn geschaffen.

Die Slowakei bezieht ihre eigene Identität, ihre Kraft und ihr Wesen nicht aus dem wasserreichen, nebligen und lebhaften Bratislava, der am Rande gelegenen Hauptstadt, sondern aus diesen Bergen. Bratislava ist der Donauhafen, der auf die Große Ungarische Tiefebene blickt, aber im Hintergrund folgen schnell die Berge und die Vergangenheit, der Geschmack und der Gesang. Die Bildsprache der Berge ist hier stärker als die Bildsprache des Flusses. Die slowakischen Berge sind noch bäuerlich, idyllisch, arbeitsam und musikalisch, wie auf dem Gemälde von Ludovit Fulla, Pieseň a práca (Gesang und Arbeit); in ihrem Inneren hallen die Klänge der Spitzhacken der sächsischen Minenarbeiter wider, das Gemurmel einer jahrhundertealten Anstrengung; sie waren auch eine Festung gegen die osmanischen Fluten sowie Rückzugsort für die Walachen, deren Migrationsstrecke sich seltsamerweise den Verlauf der Strecke vom griechischen Pindosgebirge bis hin zu den tschechoslowakischen und polnischen Beskiden zu eigen gemacht hat.
Die Fantasie dieses orphischen Volkes nomadischer Hirten hat zweifellos Spuren in den anderen slowakischen Weidegebieten hinterlassen und zur Kolonialisierung beigetragen; auf diesen gerundeten, grünen Bergen mussten die Mühen durch eine musikalische Sensibilität sublimiert werden, die bis zu den Mauern der Häuser reichte.
Es ist, als ob ein wenig von Thrakien von den Rhodopen ausginge. Die Berge vermitteln so der Slowakei, aber auch dem Polen der Beskiden, der Tatra und Zakopane einen Hauch des Südens, der Antike, des Mittelmeers. Durchschreitet man im Westen das Janustor, um nach Süden zu gelangen, so ist hier der Süden im Laufe der Zeit direkt in den Bergen, die sich durch die Landschaft ziehen, um die Slowakei, Polen, Rumänien und Griechenland auf der Spur der Walachen zu verbinden, wieder erblüht. Die Verbindung wird wieder einmal zwischen den Ebenen im Norden und im Süden deutlich, die wie die Kundalini-Kraft entlang eines Rückgrats entsteht und dem Norden, Rumänien, der Slowakei, der Tschechischen Republik und Polen südlichen, sonnigen Schwung beschert.

 
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